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Newsmeldung

Das Institut für Philosophie trauert um Universitätsprofessor i.R. Dr. Lutz Geldsetzer

Ein Nachruf von Christoph Kann und Jochen Lechner

Prof. Dr. Lutz Geldsetzer, geboren am 28. Februar 1937 in Minden, ist am 14. August 2019 im Alter von 82 Jahren in Düsseldorf verstorben. Er war von 1971 bis 2002 ordentlicher Professor am Institut für Philosophie der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, das er von Anfang an mit aufgebaut und dem er in Forschung und Lehre wichtige Konturen verliehen hat. Auch nach seiner Pensionierung 2002 setzte er seine Forschungs- und Lehrtätigkeit bis kurz vor seinem Tod fort.

Lutz Geldsetzer studierte Philosophie sowie Soziologie/Ethnologie und Recht an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Er promovierte dort 1961 über die Ideenlehre Jakob Wegelins zum Dr. phil. Nach einem Forschungsaufenthalt an der Pariser Sorbonne und einer ersten wissenschaftlichen Tätigkeit in Mainz kam Lutz Geldsetzer 1963, noch vor Gründung der Universität Düsseldorf, als wissenschaftlicher Assistent von Alwin Diemer an das Philosophische Institut der damaligen Medizinischen Akademie. Nach seiner Habilitation 1967 durch die Arbeit Die Philosophie der Philosophiegeschichte im 19. Jahrhundert. Zur Wissenschaftstheorie der Philosophiegeschichtsschreibung und -betrachtung wurde er 1969 zunächst außerplanmäßiger Professor für Philosophie, bevor er 1971 zum Universitätsprofessor für Philosophie und Leiter der Forschungsabteilung für Wissenschaftstheorie des Philosophischen Instituts an der Universität Düsseldorf ernannt wurde. Er war Mitbegründer und Mitherausgeber der Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie und Mitherausgeber der Werke von Jakob Friedrich Fries, eines Denkers in der Tradition von Kant, Jacobi und Schleiermacher.

Wer ab den 1970er Jahren sein Philosophiestudium an der Universität Düsseldorf aufnahm, stieß unweigerlich auf eine Vorlesungsreihe, die Geldsetzer regelmäßig anbot: ein Zyklus von vier Vorlesungen zur Philosophiegeschichte, die jeweils einer der vier Epochen Antike, Mittelalter, Neuzeit und Gegenwart gewidmet waren. Dieser Zyklus philosophiegeschichtlicher Vorlesungen ist bis heute ein Grundbestandteil des Curriculums der Philosophie an der HHU. Dies nicht ohne Grund, denn der Beschäftigung mit der eigenen Geschichte kommt in der Philosophie eine Bedeutung zu, die es so in keinem anderen Fach gibt. Warum das so ist und welche methodologischen Konsequenzen aus dieser eigentümlichen Stellung der Philosophie zur Philosophiegeschichte zu ziehen sind, hat Lutz Geldsetzer schon früh als Wissenschaftstheoretiker interessiert. In seinem aus der Habilitationsschrift entstandenen Buch Die Philosophie der Philosophiegeschichte im 19. Jahrhundert (1968), in dem Geldsetzer eine systematische Verhältnisbestimmung der Philosophie zu ihrer Geschichte unternimmt, geht er von der seinerzeit vieldiskutierten These aus, die Philosophie befasse sich weitgehend oder sogar überwiegend mit ihrer eigenen Geschichte, und registriert eine Polarisierung der Debatte: Einerseits werde der Philosophie ihre vermeintliche Geschichtslastigkeit zum Vorwurf gemacht, andererseits werde jene Geschichtslastigkeit als sachlich begründet und notwendig dargestellt. Mit seinem historiographischen Ansatz verfolgt Geldsetzer das Ziel, gerade das philosophische Moment jener Geschichtslastigkeit historisch auszuleuchten und so zur Klärung und Aufwertung dessen beizutragen, was sich hinter der zeitlich variierenden Programmatik von Philosophiegeschichte verbirgt. Dieses Anliegen kommt auch in seiner akademischen Antrittsrede „Was heißt Philosophiegeschichte?“ (1968) zum Ausdruck, ebenso in seinem Artikel „Philosophiegeschichte“ in dem renommierten Historischen Wörterbuch der Philosophie. Mit seinen historiographischen Arbeiten zur Philosophie hat Geldsetzer nicht nur Pionierarbeit geleistet, sondern auch eine reflexionsstarke Grundlage für seinen eigenen philosophiegeschichtlichen Vorlesungszyklus geschaffen.

Die Vorlesung als Lehrveranstaltungstyp wurde von Geldsetzer geschätzt und bis zuletzt praktiziert, weil sie, wie er bemerkte, den Lehrenden in dem Versuch, den wesentlichen Theorieströmungen gerecht zu werden, dazu zwingt, sich selbst einen genauen Überblick über eine philosophische Epoche oder Disziplin zu verschaffen. Seine Einarbeitung in ein neues Gebiet begann immer mit einer einstündigen Vorlesung, die dann einige Semester später zu einer zweistündigen Vorlesung ausgebaut wurde. Auf diese Weise erarbeitete er sich nach und nach nicht nur alle systematischen Disziplinen der Philosophie, er erweiterte seinen philosophischen Horizont auch durch Überblicksvorlesungen zur Philosophie anderer, insbesondere fernöstlicher Kulturen (Japan, China, Indien), mit einem besonderen Schwerpunkt in der chinesischen Philosophie. Lutz Geldsetzer war ein umfassend gebildeter Mensch, ein Generalist im besten Sinne des Wortes, der keiner philosophischen Schule angehörte, sondern immer Wert auf eigenständiges Urteilen und Denken legte. Zum Selberdenken wollte er auch die Zuhörer seiner Vorlesungen ermuntern, wenn er seine Ausführungen mit der Aufforderung zu beenden pflegte: „Denken Sie mal darüber nach!“. In seinem eigenen Philosophieren zeigte Geldsetzer eine Affinität zum Idealismus, wie er paradigmatisch durch George Berkeley vertreten wurde; diese Ausrichtung wusste er vielfältig mit Forschungen zum Deutschen Idealismus und weiteren, insbesondere kontinentalphilosophischen Traditionen zu verbinden. Die zunehmend dominante angelsächsische Philosophie mit ihrer teils ahistorischen Konzentration auf Begriffsanalyse beobachtete er mit kritischer Distanziertheit und der Bereitschaft zur Auseinandersetzung.

Seine Wirksamkeit als akademischer Lehrer beschränkte sich nicht auf die begrenzte Zeit der Lehrveranstaltungen. Umgeben von einem festen Kreis seiner Zuhörer und Schüler innerhalb und außerhalb der Universität setzte er im inoffiziellen Rahmen einen engagierten fachlichen Austausch fort, den er auch gerne in persönliche Themen einmünden ließ. Als Mann der ersten Stunde der Universität Düsseldorf, die 1965 aus der Medizinischen Akademie hervorgegangen war, wusste er viel aus den Anfangsjahren zu berichten, sah er sich doch selbst als „eines der letzten lebenden Fossile“ jener Zeit. Seine Auskünfte als Zeitzeuge sind 2015, als 50 Jahre HHU gefeiert wurden, glücklicherweise auf Video festgehalten worden:


https://50jahre.phil.hhu.de/zeitzeugen/category/lehrkoerper/prof-em-dr-lutz-geldsetzer/


Gern tauschte er sich mit seinen Gesprächspartnern über Entwicklungen und Perspektiven der Hochschule aus, fand auch warnende Worte vor den neuen verschulten Studiengängen und ihrer Tendenz, den Arbeitsmarkt mit weitgehend ungebildeten Absolventen zu überschwemmen. Von seinem klaren Urteil, seiner manchmal skeptisch-warnenden Stimme und seiner Bereitschaft zu konstruktiver Provokation profitierten im Anschluss an Sitzungen des philosophischen Institutskolloquiums regelmäßige abendliche Tischrunden im Umfeld der Universität.

Sein privates Arbeitszimmer wirkte wie der Prototyp einer Gelehrtenstube. Es beherbergte eine eindrucksvolle Bibliothek mit Hunderten älterer Bücher, teils Druckwerke aus dem 16. Jahrhundert. Dennoch war er alles andere als ein Stubengelehrter. Zu dem erwähnten Forschungsaufenthalt in Paris während der 1960er Jahre sollten später Gastprofessuren in Nantes, Padua, Atlanta und im chinesischen Shandong hinzukommen. Als wissenschaftlicher Kosmopolit erkannte er die Tendenz Europas, abendländisch provinziell zu werden, das unzureichende Verständnis externer Kulturen sah er als Risiko und Hypothek. Geldsetzer war sich der gemeinsamen geistigen Wurzeln bewusst, die Judentum, Christentum und Islam in der neuplatonischen Philosophie des alten Griechenland haben. Nicht Eiferer, sondern Gebildete sollten den notwendigen Dialog führen – ein Verständigungsprozess, zu dem er selbst maßgeblich beitrug. Seine kulturgeschichtliche Versiertheit verdankte er u.a. der Basis breitgefächerter Sprachkenntnisse, darunter Arabisch, Chinesisch und Sanskrit.

Zum wissenschaftlichen Profil von Geldsetzer zählen neben den genannten philosophischen und philosophiegeschichtlichen Zentralbereichen speziellere Arbeitsfelder, mit denen er überregional auf sich aufmerksam machte. In der Hermeneutik zeigte er sich als kritischer Beobachter methodologischer Erosionstendenzen, in der Logik entwickelte er eine vor bzw. unterhalb der Schluss- oder Aussagenebene ansetzende Begriffstheorie in pyramidaler Notation. Mit seiner zeitlos relevanten Bücher- und Institutionenkunde für das Philosophiestudium (1971) gab er Einsteigern einen wertvollen Leitfaden an die Hand. Seine Neubearbeitung von Karl Vorländers renommierter Geschichte der Philosophie, Bd. III. 1. Teilband: Die Philosophie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (1975) ist als prestigeträchtiger Beitrag zu einem erstrangigen wissenschaftlichen Bestseller zu würdigen. Zusammen mit seinem Kollegen Han-ding Hong brachte er 1986 ein Chinesisch-deutsches Lexikon der Chinesischen Philosophie heraus, dem 1998 das Buch Grundlagen der chinesischen Philosophie folgte, das 2008 unter dem Titel Chinesische Philosophie. Eine Einführung in 2. Auflage erschien. Mit seinem Werk Die Philosophenwelt in Versen vorgestellt (1995), einer publikumswirksamen Aufbereitung der Philosophiegeschichte, gelang Geldsetzer der Nachweis, dass nicht nur die puristisch-akademische Darstellungsform von Philosophie ihre Berechtigung hat. „Nulla dies sine linea“ (Kein Tag ohne Linie) war ihm eigenes Anliegen und Anspruch an andere; immer viel publiziert zu haben machte ihn stolz.

Die Philosophische Fakultät der Heinrich-Heine-Universität wird Lutz Geldsetzer in dankbarer Erinnerung behalten.

Christoph Kann / Jochen Lechner

Kategorie/n: Allgemein
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