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Marc Rölli: "Fabulieren. Bergson und die dekoloniale Kritik des Imaginären"

Philosophie
„Fabulieren. Bergson und die dekoloniale Kritik des Imaginären“
Marc Rölli

 

Abstract:

In der aktuell stark rezipierten queer-feministischen und öko-terrestrischen Literatur spielt eine philosophische Denkfigur eine prominente Rolle: Henri Bergsons „Fabulieren“. Vielleicht erscheint sie attraktiv, weil sie im Unterschied zu den traditionellen Vorstellungen über die Phantasie und das Imaginäre als eine „produktive Einbildungskraft“ fungiert, die quasi im Herzen der Erfahrung operiert – und gerade nicht in einem separierten und irrealen Raum. Sie mag im „storytelling“ oder „feminist worldmaking“ wirksam sein, aber sie stützt sich nicht auf ein anthropologisches Ideal, sondern entfaltet sich entlang der Bruchlinien zeitgenössischer Subjektivierungsprozesse. Fabulieren gründet nicht in einer utopischen Heilsquelle, sondern affirmiert immanente Lebensverhältnisse: mit Donna Haraway stecken ihre Kräfte inmitten kollektiver Überlebenspraktiken und werden dort auch dringend gebraucht. Sie sind tentakulären Typs und hantieren wie der Krake (nach Roger Caillois) mit unbestimmten Vielheiten.

Zur Person:

Marc Rölli ist Professor für Philosophie und derzeit Prorektor an der Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) in Leipzig. Bis 2015 war er Leiter des Forschungsschwerpunkts „Theorie und Methoden“ an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) und Full Professor of Philosophy an der Fatih University in Istanbul. Seine jüngsten Publikationen umfassen Anthropologie dekolonisieren. Eine philosophische Kritik am Begriff des Menschen (Campus, 2021); Macht der Wiederholung. Deleuze – Kant – Nietzsche (Turia und Kant, 2019), Immanent denken (Turia und Kant, 2018) und Gilles Deleuze’s Transcendental Empiricism (Edinburgh University Press, 22018). Als Herausgeber veröffentlichte er zuletzt Vierzig Jahre Überwachen und Strafen. Zur Aktualität der Foucault’schen Machtanalyse (transcript, 2017, mit Roberto Nigro) sowie aktuell Perspektiven post- und dekolonialer Kritik. Schwerpunkt im Journal Phänomenologie 59/2023.

Zur Vorlesungsreihe

Das 19. Jahrhundert ist geprägt von der Entstehung unabhängiger Einzelwissenschaften und einer damit verbundenen Kompartmentalisierung von Erkenntnis: Spezifische Erfahrungsbereiche werden jeweils zum Gegenstand einer für sie mehr oder weniger exklusiv zuständigen Einzelwissenschaft, deren Methoden- und Begriffsinventar sich von demjenigen anderer Disziplinen unterscheidet. Als Kind des 19. Jahrhunderts erwächst die Lebensphilosophie nicht zuletzt in kritischer Absetzung von dieser Tendenz einer Entkopplung der Wissenschaften von anderen gesellschaftlichen Systemen und ihrer Auffächerung in Subdisziplinen und Spezialgebiete. Sie ist, wie Otto Friedrich Bollnow plakativ anmerkt, „durch eine ganz bestimmte Kampfstellung gekennzeichnet“, die sich insbesondere gegen die Vorstellung richtet, der Mensch als philosophierendes Subjekt ließe sich adäquat als Objekt wissenschaftlicher Erkenntnis erfassen. Über die ,Abstoßbewegung‘ von einseitigen szientistischen und positivistischen Versuchen, das unmittelbare Erleben von Sinnhaftigkeit und individuellen Gestaltungsmöglichkeiten in formale Kategorien zu übersetzen, hinaus, geben die Vertreter der Lebensphilosophie damit einen wichtigen Impuls für die Weiterentwicklung philosophischer Methoden, der etwa in der Phänomenologie oder der Hermeneutik Ausdruck gefunden hat. Vor diesem Hintergrund werden im wöchentlichen Wechsel Expertinnen und Experten der Lebensphilosophie sowohl exemplarische Auseinandersetzungen mit einzelnen Positionen lebensphilosophischen Denkens von Schopenhauer und Nietzsche bis Dilthey und Simmel als auch Kontinuitäten zwischen der Lebensphilosophie und nachfolgenden Strömungen sowie systematische Weiterentwicklungen präsentieren.

ICS

Details

05.06.2023, 16:30 Uhr - 18:00 Uhr
Ort: 23.21.U1 Raum 48
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